Antrag geht völlig an der Sache vorbei
Der Wunsch nach Sicherheit ist groß in diesen Tagen. Die Politik sucht nach Wegen, diesem Wunsch gerecht zu werden – vor diesem Hintergrund wird jetzt wohl auch hier in Dillenburg dieses Fass aufgemacht. Ob man sich in Dillenburg sicher fühlen kann, wird allerdings sehr individuell bewertet: die einen haben gar keine Ängste, schon gar nicht auf den zentralen Plätzen – so es diese hier überhaupt gibt. Andere fühlen sich unwohl, vor allem nachts in der Innenstadt.
Mit der Videoüberwachung ist es übrigens genauso – für die einen erhöht sie die gefühlte Sicherheit, die anderen fühlen sich in ihrer Privatheit und Würde im öffentlichen Raum eingeschränkt oder gar bedroht – gerade, wo die Technik und die Aufnahmen immer besser werden.
Keine ‚Brennpunkte‘ auszumachen
In Dillenburg stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt Plätze und Straßenzüge gibt, die so gefährlich sind, dass der Einsatz von Videoüberwachung auch rechtlich begründet werden kann. Bisher jedenfalls kennen wir keine derartigen Brennpunkte. Nicht am Bahnhof oder im Hofgarten, schon garnicht in Donsbach am Gummibahnhof oder in Eibach am Dorfbrunnen. Straftaten in einer Masse jedenfalls , dass man aus Sicht der Behörden Kameras installieren sollte, existieren offensichtlich nur in der CDU-eigenen Realität.
Die CDU schreibt in der Begründung ihres Antrages, dass es „im gesamten Stadtgebiet und in den Ortsteilen […] nach Informationen durch betroffene Bürgerinnen und Bürger eine ganz erhebliche Zunahme von Gewaltdelikten“ gebe. Als Beleg dafür bemühen sie angebliche Berichte in der „Tagespresse“. Und dann setzen sie für diejenigen, die sich – wie wir – an eine solche Berichterstattung garnicht erinnern können, vorsichtshalber noch einen drauf: Nach Ihren Informationen sind „eine Anzahl von Delikten“ […] „auch nicht zur Anzeige gekommen“.
CDU sitzt ‚fake-news‘ auf
Mein erster Gedanke war deshalb: Wie schnell das doch abgefärbt hat. Jetzt fangen die auch an mit den ‚alternativen Fakten‘. Ohne Not, ja nicht einmal mit konkreten Beispielen belegt – also ohne triftigen Grund – stellt die CDU diesen Antrag. Die von den Christdemokraten angesprochene ‚Berichterstattung‘ finden wir bestenfalls in der unsäglichen Postille von Herrn Irmer oder in den ebenso windigen Aussagen bestimmter Vertreter von „Pro Polizei“ – aber sicher nicht in unseren heimischen Tageszeitungen. Mein zweiter Gedanke war: Aha, der Bundestags-Wahlkampf rückt näher. Hier sehen die Damen und Herren von der CDU wohl ihre Felle in Richtung AfD wegschwimmen; anders kann man sich die Stoßrichtung ihres Antrages nicht erklären.
CDU hat ein Erkenntnisproblem
Wenn sich also bei einzelnen Menschen das subjektive Sicherheitsgefühl nicht mit der objektiven Sicherheitslage deckt, dann hilft auch keine Videoüberwachung, sondern nur Aufklärung. Hilfreich ist hier ein kurzer Ausflug in die kognitive Psychologie: Es gibt ein offensichtliches Erkenntnisproblem der CDU-Fraktion. Und die besondere Qualität dieser selbst gebastelten Wahrheit besteht darin, dass sie ohne jede Vorbildung – nur mit der Kraft der eigenen Wahrnehmung – von jedem durchschaut werden kann. Es ist gewissermaßen ihr Zweck, der Wahrnehmung zu widersprechen. Der Mensch neigt nämlich dazu, neue Informationen mit dem eigenen Wissen abzugleichen. Stimmen sie mit dem überein, was man bereits weiß, bestärken sie das eigene Wissen. Widersprechen sie sich, entsteht kognitive Dissonanz. Das ist ein unangenehmer Zustand, den Menschen zu vermeiden versuchen, indem sie ihr eigenes Wissen den neuen Fakten anpassen. So lernen wir.
Widersprüchliche Informationen sind deshalb so unbeliebt, weil sie kognitive Dissonanz erzeugen – und die auszuhalten, kostet Ressourcen. Wenn ich Ihnen sage: „Der Himmel ist grün“, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben. Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind. Bis Sie einlenken und sagen: „Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.“ Steter Tropfen höhlt den Schädel, kann man wohl dazu sagen. Das Ziel offensichtlicher Lügen ist der Beweis der Machtlosigkeit von Wahrheit; die Verschiebung des Diskurses, so dass alles plötzlich infrage gestellt wird.
Massive Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte
Aber jetzt zu den Fakten: Videoüberwachung wird schon heute von zahlreichen öffentlichen und privaten Organisationen und Personen durchgeführt. Die private ist genauso wie die halböffentliche sehr weit fortgeschritten– wie zum Beispiel im Nahverkehr oder an Geschäften. Aber auch der öffentliche Raum wird immer mehr überwacht. Zudem ist durch das BKA-Gesetz mittlerweile nahezu jede polizeiliche Videoüberwachung auch im privaten Raum gestattet. Die Erfolgsbilanz ist ernüchternd:
- In den allermeisten Fällen ist kein nennenswerter Rückgang der Kriminalität zu verzeichnen. Die Kriminalität verlagert sich schlichweg auf nicht überwachte Orte.
- Das Ziel, Schwerkriminelle zu fassen, ist mit Videoüberwachung nicht möglich, weil diese zu gut vorbereitet sind. Somit stellt sich schnell die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.
- In London z.B. , der Stadt mit der meisten Videoüberwachung weltweit, steigt die Kriminalitätsrate, weil Polizisten zu sehr den Kameras vertrauen anstatt selbst einzugreifen. Eine Kamera kann aber nicht helfen. Sie beobachtet nur.
- Viele Menschen wiegen sich in trügerischer Sicherheit, wenn ihre Umgebung überwacht wird. Dabei kann und wird die Kamera auch hier nicht aus der Fassung springen und eingreifen, wenn etwas passiert. Dies geht so weit, dass Menschen nicht mehr eingreifen, wenn andere Menschen angegriffen werden – die Kamera schützt ja.
- Menschen verhalten sich anders, wenn sie überwacht werden. Sie versuchen, weniger Individualität zu zeigen und nicht aufzufallen. Dies ist ein Angriff auf unsere freiheitliche Gesellschaft und damit auf unsere Demokratie.
- Kameraüberwachung ist extrem teuer. All das zahlen wir als Bürger in Form von höheren Steuern, höheren Fahrkartenpreisen und höheren Eintrittskosten. Für das in Kameras investierte Geld lassen sich deutlich effektivere Konzepte umsetzen.
Wir können also festhalten: Mehr Videoüberwachung führt nicht automatisch zu mehr Sicherheit. Gerade Terroristen und irrational handelnde Einzeltäter – etwa unter Alkohol- und Drogeneinfluss – lassen sich durch eine Videoüberwachung nicht von schweren Straftaten abhalten.
Wir halten jedenfalls die Forderung der CDU, künftig auch verschiedene Plätze in Dillenburg video-überwachen zu lassen, für eine überzogene und falsche Reaktion auf die Ereignisse in den vergangenen Tagen und Wochen. Es ist illusorisch zu glauben, damit die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich erhöhen zu können.
Fest steht: Videoüberwachung verhindert keine Straftaten und ist darüber hinaus datenschutzrechtlich höchst bedenklich. Werden öffentliche Plätze umfassend durch Kameras überwacht, wird gleichzeitig jeder Bürger, der sich dort aufhält, unter Generalverdacht gestellt. Zudem greifen solche Maßnahmen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein.Eine wie von der CDU-Fraktion gewünschte Videoüberwachung würde zudem an praktischen Voraussetzungen scheitern. So könnte niemals auch nur annähernd genügend Personal bereitgestellt werden, um sämtliche Aufnahmen auszuwerten.
Prävention statt Überwachung
Statt ‚Big Brother‘ zu spielen, täte die CDU also gut daran, tatsächlich zielführende Schritte zur Prävention von Straftaten einzuleiten: Wer Straftaten verhindern oder besser verfolgen möchte, muss für eine ausreichende Finanzierung von Projekten in der Gewaltprävention bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sorgen. Und er muss für eine gute Ausstattung der Polizei bei Personal und Technik sorgen. Das kostet zwar auch Geld, aber die Überwachungs-Ausbau-Fantasien sind ebenfalls kostenintensiv – und fordern zudem einen noch deutlich höheren Preis: Nämlich unsere verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechte.